Inzwischen fragen sich viele, die in der britischen Hauptstadt wohnen, ob sie hierbleiben sollen, und es gibt gute Gründe, sich darüber Gedanken zu machen
Corona in der Großstadt
Für lange Zeit sind ja immer mehr Menschen weltweit in die Metropolen gezogen, so auch nach London, aber auf einmal ändert sich das.
Von verschiedenen Leuten weiß ich, dass sie wegwollen oder inzwischen schon irgendwo auf dem Land leben, wo Virusgefahr und Wohnungspreise niedriger liegen.
Wer sowieso nur der Arbeit wegen hier sind oder war, für den kann das Sinn machen, vor allem, wenn er nun ständig oder an mehreren Tagen in der Woche im Homeoffice arbeitet.
Und wer in London beengt lebt, ist oft besonders motiviert, die Stadt zu verlassen.
Allerdings frage ich mich, ob einige derjenigen, die zum ersten Mal aufs Land ziehen wollen, nicht unrealistisch romantische Vorstellungen davon haben.
Ich bin selbst in einem Dorf aufgewachsen und habe später in einer mittelgroßen Stadt gewohnt, deshalb weiß ich, was ich alles vermissen würde, wenn ich hier wegginge.
Gerade in Zeiten, in denen Reisen schwierig ist, bin ich sogar noch lieber in London, wo nach wie vor viele Leute aus aller Welt leben.
Im Sommer bin ich – Corona sei dank – endlich mal wieder richtig gerne im Zentrum gewesen, weil es weniger hektisch war.
Und ich habe in London den Vorteil, sowohl Englisch als auch Deutsch, beide Sprachen, mit denen ich arbeite, ungefähr zu gleichen Teilen regelmäßig sprechen zu können. Außerdem kann ich neben der englischen Kultur auch immer mal wieder andere kennenlernen.
Wer jetzt sagt, dass die meisten Kontakte momentan eh nur über Zoom, Skype und Telefon stattfinden, wobei es dann egal ist, wo man wohnt, hat einerseits recht.
Andererseits finde ich aber Kommunikation leichter, wenn man die Leute auch persönlich treffen kann. Da wir ja in den nächsten Monaten Impfungen im großen Stil in Aussicht haben, gehe ich nicht davon aus, dass wir ewig im Lockdown bleiben werden.
Sprachkenntnisse lassen sich im Alltag doch einfacher trainieren als online, und es ist nützlich, dabei so viele Sinne wie möglich einzusetzen. Jedenfalls können Tast-, Geschmacks- und Geruchssinn bis jetzt noch nicht per Videokonferenz übertragen werden.
Versteckte Schätze
Manches habe ich erst nach Jahren entdeckt, zum Beispiel den kleinen Stationers Park ganz bei mir in der Nähe, der inzwischen mein Favorit geworden ist.
Hier stehen jede Menge Tische und Bänke. Vor allem in der warmen Jahreszeit habe ich da oft gearbeitet, und manchmal tue ich es jetzt noch. Auch bei der erhöhten Corona-Alarmstufe war hier zum Glück weiter geöffnet. An einer Verkaufshütte gibt es sogar heiße Getränke und guten Kuchen – was will man mehr.

Man muss nur wissen, wo in London die vielen grünen Flecken zu finden sind.
Da wäre außerdem zum Beispiel das Naturschutzgebiet Woodberry Down
nahe Stoke Newington, das ich von mir zu Hause aus noch gut zu Fuß erreichen kann. Ich gehe dann über den Capital Ring, den inneren Wanderweg um die Stadt herum auf dem Abschnitt Highgate – Stoke Newington.
Wer mit der U-Bahn hinfahren möchte, nimmt die Piccadilly Line bis Manor House.
In Woodberry Down kann man den Blick aufs Wasser genießen und hat mal wieder das Beste aus zwei Welten: Natur pur, und die Großstadt ist ganz nah. So etwas gibt es in London häufiger, und es ist ein wesentlicher Grund dafür, der mich hier hält. Es hat auch besonders in Corona-Zeiten die Lebensqualität enorm erhöht.
Zukunftsaussichten
Ich kann mir gut vorstellen, dass besonders grüne Gegenden wie Woodberry Down, die nicht weit von der Innenstadt entfernt liegen, in Zukunft noch beliebter werden.
Hier entstehen auch etliche neue Hochhauskomplexe mit Neubauwohnungen. Diese Wohnungen sind aber im Schnitt noch teurer als der sonst schon nicht gerade billige Wohnraum in London.

Absurd wird es immer dann, wenn bei Neubauten mal wieder stolz darauf hingewiesen wird, dass ein gewisser Prozentsatz davon “bezahlbar” ist. Wozu sollen die Häuser denn sonst gut sein? Um reiche Investoren noch reicher zu machen?
Aber es ist klar, dass sich zumindest Büroräume schon jetzt schwerer vermieten lassen, und mit denen konnte man vor Corona am meisten verdienen.
Vielleicht werden irgendwann auch Miet- und Eigentumswohnungen wieder günstiger, dann hätte das Virus etwas Positives bewirkt.
Außerdem fahren durch Corona mehr Leute mit dem Fahrrad. Weniger toll finde ich, dass auch mehr Autos unterwegs sind, aber die verschmutzen ja die Umwelt nicht so schlimm wie die Flugzeuge, von denen inzwischen deutlich weniger in der Luft sind.
War da nicht noch was? Ach ja, der Brexit.
Offiziell haben wir ihn schon seit Ende Januar. Vor dem Corona-Ausbruch war er das alles beherrschende Thema, dann geriet er durch das Virus fast in Vergessenheit, und jetzt hören wir wieder mehr davon.
Am Jahresende läuft die Übergangszeit ab, und erst dann werden wir sehen, was der Brexit wirklich für Folgen hat.
Mittlerweile wurde mir mitgeteilt, dass ich auf unbegrenzte Zeit im Land bleiben darf, weil ich die Kriterien für den sogenannten “Settled Status” erfülle. Schön.
Allerdings haben ja die Londoner sowieso mehrheitlich für den Verbleib in der EU gestimmt, und in meinem Stadtteil Haringey waren es noch mehr als im Durchschnitt.
Auch wenn ich als Deutsche sicher weniger Probleme habe als Leute einiger anderer Nationalitäten, würde ich in England auf keinen Fall auf dem Land leben wollen, wo die Brexit-Befürworter in der Überzahl sind.
Freiberufler haben es hier besser als in Deutschland
In den vielen Jahren, in denen ich nun in London lebe, war ich nie fest angestellt, sondern habe immer freiberuflich gearbeitet, was im Bereich Sprache sowieso keine Seltenheit ist.
Hier habe ich als Freiberuflerin schon oft den Schwerpunkt meiner Arbeit geändert, weil ich das selber so wollte und konnte dadurch immer wieder viele interessante Erfahrungen sammeln.
Aber jetzt werden vielleicht auch einige Leute, die vorher nie auf die Idee gekommen sind, gezwungen sein, sich neu zu orientieren, vor allem, wenn die Zukunftsperspektiven für ganze Branchen unsicher sind.
Hier im Land wird nicht so ein großer Unterschied zwischen Festangestellten und Freiberuflern gemacht, die durch die Ausgangssperre Probleme haben. Soloselbständige in Not kommen hier viel leichter an finanzielle Hilfe als in Deutschland.
Ich gehe davon aus, dass in Zukunft weltweit mehr Flexibilität gefragt ist. Genau die bietet die Freiberuflichkeit: Je nachdem, was man macht, sind auch verschiedene Arten von Arbeit gleichzeitig möglich.
In London habe ich jedenfalls immer wieder neue Anregungen und Inspirationen gefunden, die ich mir an kaum einem anderen Ort der Welt so hätte vorstellen können.
Außerdem können Leute wie ich in Großbritannien einfacher ihre Steuererklärung online selbst machen als zum Beispiel in Deutschland. Das spart Geld und Nerven.
Alles in allem habe ich also immer noch eine Menge Gründe, um hierzubleiben.
